Für Island gilt,wie für andere abgelegene Landstricht, dank seiner extremen Lage ganz besonders, dass sich die volkskundlich-
en Traditionen unabhängiger und intensiver noch bis in unter Jahrhundert erhalten haben, je geringer die überfremden den Einflüsse durch kriegerische Besezungen waren und je später die Industrialisierung ihre in großen Teilen zweifelhaften Fortschritte mir sich brachte.
Pöstion schrieb im Jahre 1883: „Immer war Island auch eine Heimstätte der Volksdichtung, insbesondere der Sagen- und Märchendichhtung, für die ja die Geschichte sowie die localen und socialen Verhältnisse einen ausgezeichneteren Boden als irgend anderswo darbieten. Das Anhören und Erzählen der alten Sagen und Märchen, die bald In der kräftigen, knappen Prosa, bald In kunstreichen Versen und Reimen vorgetragen werden, bildet ja, Wie schon oben bemerkt, nebst der Lektüre der Sagas noch immer die Lieblingsdichtung der Isländer an den langen Winterabenden. Das Märchen ganz besonders ist auf der Insel so alt Wie die Geschichte der Insel selbst, welche mit dem Jahre 874, dem Zeitpunkt der beginnenenden Besiedelung Islands durch Norweger, ihren Anfang nimmt.“
Erstaunlich ist es, dass Könige und Königskinder - neben den zahlreichen geheimnisvollen und unheimlichen Wesen - in den isländischen Märchen eine so große Rolle spielen. Da es ja In Island niemals Könige gab, könnte leicht der Eindruck entstehen, dass es sich um von anderen Völkern übernommene Stoffe handelt. Das Gegenteil jedoch ist der Fall, dies ist ein Indiz für das hohe Alter von vielen dieser Märchen, da die Ansiedler Islands am Ende des 9. Jahrhunderts aus Norwegen kamen, wo es zahlreiche Kleinkönige gab. Viele der landnehmenden Nordmänn-
er lebten auch zuvor längere Zeit auf den britischen Inseln, auf der Flucht vor dem norwegischen König Harald Haarschön, der den Freibaürnstnd beseitigte und an seine Stelle den Königs staat setzte. (s.8) Bis zur erneuten Auswanderung, nun nach Island, heira-
teten viele der Nordmänner ein heimische Frauen - tatsächlich oft Königstöchter. Ausser ihren Familien nahmen sie keltische Sklaven und freiwillige Gefolgsleute mit (worüber die berühmten Landnahmenbücher ausführlich berichten; siehe: ,Islands Be-
siedelung und älteste Geschichte’. Reihe Thule, Bd.23, Düsseldorf - Köln 1967).
Ebenso wie meine ,Sagen aus Island’(Fischer Taschenbuch, Bd.1996, Frankfurt/Main 1978)stammen die vorliegenden Mär-
chen ursprünglich von dem bedeutenden Sagen - und Märchen-
sammler J ó n Arnasson, der für die isländische Volkskunde eine Bedeutung hat Wie hierzulande die Brüder Grimm. Denn auf seuner umfangreichen Sammlung basiert meine eigentliche Qülle: „Isländische Märchen“, aus den Originalqüllen über-
tragen von J. C. Pöstion, Wien 1884. Es ist ihm - fier seine Zeit - vorzüglich gelungen, den Originalton der Mächen zu erhalten, sie aber gleichwohl vorsichtig sprachlich zu modernisieren. Genau dies habe ich unternommen: vorsichtig zu straffen, für den heutigen Leser unverständliche oder übermäßig antiquierte Redensarten zu ersetzen - ohne den Volksmärchen - Chara-
kter anzugreifen.
An erster Stelle soll diese Auswahl dem Märchenliebhaber Spaß machen (wobei ich mich nicht an Wissenschaftler wende, denn ihnen sind ja die Originalqüllen in ihren Fachbibliotheken leicht zugänglich). Darüber hinaus aber hoffe ich, dass sie - ergänzend zu den Sagen - einen Einblick In Volkscharakter und Geschichte Islandds vermitteln helfen.